Relativer Bevölkerungsgang im mittelalterlichen Europa. [Herrmann, S. 27]

Der Bevölkerungsgang in Europa

Eine genaue Bevölkerungsentwicklung läßt sich heute nicht mehr nachvollziehen, da nur selten auf so etwas wie Volkszählungen, Mannschafts- oder Steuerlisten zurückgegriffen werden kann. Dennoch läßt sich der Trend, insbesondere ein starker Zusammenbruch und Zuwachs nachvollziehen, ohne die exakte Anzahl der Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt zu kennen. Für zahlreiche europäische Länder ergeben sich nach Gisela Grupe vergleichbare Trends, die in einer additiven Kurve oben dargestellt sind; die Daten erhalten mit dieser Vorgehensweise eine eher globale Aussagekraft. [Herrmann, S. 25]

Als Richtlinie zu obiger Grafik: Nach einer groben Schätzung lebten um 1250 maximal 12 Millionen Menschen in Deutschland.

Der Bevölkerungsgang beginnt mit einem massiven Einbruch zur Mitte des 6. Jahrhunderts, was sich auf mehrere aufeinanderfolgende Pestepidemien zurückführen läßt - auch wenn das Auftreten der Pest zu diesem Zeitpunkt nicht sicher belegt ist, muß zumindest eine sich seuchenartig ausbreitende Infektionskrankheit über Europa eingebrochen sein, die schätzungsweise 40% der Bevölkerung dahinraffte. Darauf folgte ein wahrscheinlich zunächst rascher, dann langsamerer Bevölkerungsanstieg, der vor allem durch das lokale Nahrungs- und Rohstoffangebot (z. B. Holz) reguliert wurde. Auch wenn das 12. und 13. Jahrhundert durch zahlreiche überregionale Teuerungen und Hungersnöte gekennzeichnet ist, kommt es zu einer höheren Geburtenrate und damit zu einem Bevölkerungswachstum. Der plötzliche Anstieg im 13. Jahrhundert, der lokal zu verschiedenen Zeitpunkten eingesetzt haben mag, wird sowohl durch das Anwachsen der Städte als auch durch die zahlreichen Neugründungen von Siedlungen und Städten hervorgerufen. Um 1300 ist dann die Kapazitätsgrenze erreicht - ein weiteres Wachstum wird wahrscheinlich durch das Nahrungs- und Rohstoffangebot verhindert. Den schweren Pestwellen, die zur Mitte des 14. Jahrhunderts über Europa wüten, fallen durchschnittlich etwa 40%, lokal sogar bis zu 70%, der Bevölkerung zum Opfer. Schließlich erfolgt eine rasche Erholungsphase im 15. Jahrhundert. [Herrmann, S. 26]


Die Bevölkerungszahl in Berlin um 1300

A. von Müller schätzt die Berliner Bevölkerung um 1220, also vor der ersten Stadterweiterung um 1230, auf nur etwa 1200 Menschen. [Müller, S. 28] Eine etwa vergleichbare Zahl dürfte zu dieser Zeit in Cölln gelebt haben. Betrachtet man hierbei die oben dargestellte Bevölkerungsentwicklung, fällt in guter Übereinstimmung dieser Zeitpunkt auf den Beginn des stärksten Wachstums: legt man eine Population von 2400 Stadtbewohnern zugrunde, würde diese, dem durchschnittlichen Bevölkerungsgang folgend, um 1300 etwa auf 3600 angewachsen sein. Dennoch dürfte diese aufblühende Stadt, die ihr durch Steinmauern geschütztes Stadtgebiet gerade um mehr als 30% erweitert hat, über dem durschnittlichen Zuwachs liegen - auch wenn im Umland zur Mitte des 13. Jahrhunderts erbitterte Kämpfe der Brandenburger gegen Meißen, Magdeburg und Pommern ausgetragen werden.

Dieser vorsichtigen Abschätzung folgend müßten somit im Berlin und Cölln um 1300 etwa 4000 Menschen leben (mit etwa 2600 in Berlin und 1400 in Cölln; dies folgt dem 2:1-Verhältnis von Berliner zu Cöllner Ratmannen im gemeinsamen Rat des Jahres 1307).


Frauen- und Männeranteil

In Florenz kamen 1427 auf 110 Männer 100 Frauen, in Nürnberg hingegen kommt man 1449 auf 100 Bürger gegenüber 117 Bürgerinnen und für Freiburg (im Breisgau) findet man in der Zeit von 1449 bis 1499 einen Anteil von 52,6% Männern zu 47,8% Frauen (2,7% unklar). Die Frage, ob Männer oder Frauen in der Bevölkerung einer mittelalterlichen Stadt überwiegten, bleibt bis heute offen. [Herrmann, S. 35]


Die Lebenserwartung

Wie zu erwarten, war die Kindersterblichkeit im Mittelalter sehr hoch: etwa jedes zweite Kind hat das 14. Lebensjahr nicht erreicht. Dies ergibt sich aus Untersuchungen von Dorffriedhöfen; so waren z. B. 47,7% der Bestatteten Kinder in einem slawischen Dorf des 10. bis. 12. Jahrhunderts (Espenfeld in Thüringen) und ebenso 47,7% im nordschwedischen Westerhus (1100-1350). Ähnliche Informationen für Städte erhält man nur vereinzelt aus Autobiographien: im fränzösischen Limousin z. B. sterben 54% aller Lebendgeburten im Kinder- oder Jugendalter - und bei den Verfassern handelt es sich um gutsituiertes Bürgertum, wie z. B. Ärzte oder Kaufleute, die sich eine gute medizinische Versorgung leisten konnten. Folglich zählte man in der Region für den Zeitraum von 1350 bis 1500 sehr hohe Kinderzahlen: auf ein Elternpaar kamen mehr als 11 Geburten, von denen im Schnitt nur 6-7 das Erwachsenenalter erreichten. [Herrmann, S. 61]

Aber auch die Sterblichkeit der Erwachsenen war hoch - Daten hierzu gibt es aus Pistoia, wo nur 35,4% der Fünfzehnjährigen das Alter von 50 erreichten. Von den Fünfzigjährigen erreichten dann 62,6% das 60., 30,5% das 70., 9,6% das 80. und schließlich 1,1% sogar das 90. Lebensjahr.

Die Lebenserwartung der Frauen betrug in Pistoia also 29,8, die der Männer 28,4 Jahre. Im Alter von 30 bis 60 überwog dann die Frauensterblichkeit, was die vielen Heiraten relativ alter Männer mit jungen Frauen erklären soll. [Herrmann, S. 36]


Die Haushaltsgröße

Nach Edith Ennen kann man in den Städten im Durchschnitt von 4-5 Personen pro Haushalt ausgehen - dieser Durchschnitt ist aber von den nachweislich vielen Einzelpersonenhaushalten beeinflußt. Der städtische Haushalt umfaßt die Eltern und Kinder, aber keine Drei-Generationen-Familie - das moderne Problem alter Leute gab es damals nicht. [Herrmann, S. 36]
A. von Müller zu Folge soll die Geburt des ersten Kindes durchschnittlich in das 25. Lebensjahr des Mannes fallen [Müller, S. 225], während die Frau zu diesem Zeitpunkt etwas jünger sein dürfte: immerhin heirateten sie im Alter zwischen 16 und 20 Jahren - im Gegensatz zu den Pubertätsehen des Frühmittelalters hat sich das Alter von 12 oder 13 Jahren nach oben verschoben. [Herrmann, S. 37]